Da mir die
neuen Fünf Freunde-Darsteller so gut gefallen, habe ich eine
Abenteuergeschichte mit Neele Marie in der Hauptrolle geschrieben. Ich
möchte mich bei allen Mitwirkenden des Kinofilms für
den tollen Kinoabend bedanken und freue mich schon sehr auf
"Fünf Freunde - Teil 2"!
Viel Spaß beim Lesen!
Inhalt
I Neele Marie wittert ein GeheimnisII Das Felsenhaus
III Den Schurken auf der Spur
IV Zwei Freunde legen eine Falle
V Ein eiskalter Plan
VI Es geht hart auf hart
VII Das Versteck
VIII Der Kommissar greift ein
I - Neele Marie wittert ein Geheimnis
Sonnenstrahlen kitzelten Neele Marie in der Nase. Eine warme
Oktobersonne schien in ihr Zimmer. Sie stemmte sich im Bett hoch, und
der erste verlockende Gedanke, den sie hatte, war dass heute die
Herbstferien begannen und sie mit ihrem Vater auf die Insel verreisen
würde.
Nachdem sie zusammen mit ihrem Vater Kakao getrunken hatte, fuhren
beide mit dem Auto ab. Der Weg führte sie durch
sonnendurchflutete Buchenwälder, vorbei an einem
blühenden Hochmoor. Irgendwann - sie hatten gerade ein Dorf
durchquert, in dem ein Schützenfest gefeiert wurde - tauchte
vor ihnen die Küste auf. Sie setzten mit der Fähre
auf die andere Seite und kamen am Mittag auf der Insel an.
»Hier kenne ich mich aus«, sagte Neele Maries Vater
und lenkte den Wagen durch die schmale Küstenstraße.
»Die Schiffe bringen jedes Jahr immer mehr Touristen
herüber. Ich bin schon hergekommen, da kannten die meisten
Leute bei uns diese Insel kaum dem Namen nach. Ich war damals noch
Student.«
»Tja, lang lang ist's her«, entgegnete Neele Marie.
»Da sind schon wieder zwei neue Hotels!«, sagte ihr
Vater.
»Vorsicht, Vati! Du wirst noch die Leute über den
Haufen fahren!«
Der Vater reagierte blitzschnell und trat auf die Bremse.
»Entschuldige bitte Liebes, ich war in Gedanken immer noch
in der Kanzlei. Die Leute hier laufen auf der Fahrbahn, als
gehöre sie ihnen allein. Ich werde uns den Weg
freibahnen!«
Neele Maries Vater betätigte einige Male die Hupe, und die
Fremden wichen zur Seite. Das Auto fuhr an den Geschäften
vorbei, die überall ihre Waren bis heraus auf die
Straße stellten. Ganze Berge von rotglänzenden
Äpfeln waren aufgestapelt. Bunte Pullover und
Seidentücher in allen Farben flatterten an ihnen vorbei.
Der Wagen fuhr zwischen Gärten, danach an Weinbergen
aufwärts. Durch das geöffnete Fenster roch Neele
Marie einen herben Geruch nach Kräutern, der von den
Hügeln herüber zu kommen schien.
Endlich war es soweit.
Der Vater hielt den Wagen vor einem weißen Haus.
Über der Tür stand in goldener Schrift: PETERHOF.
Erleichtert seufzte Neele Maries Vater auf. Nachdem er in der Zeitung
gelesen hatte, dass die stürmische See eines der Hotels im
letzten Winter komplett weggerissen hatte, war er froh, dass seine
kleine Pension noch genauso unverändert dastand wie in den
Jahren zuvor.
Gleich darauf kam Frau Fahrenkrog-Petersen aus dem Haus gelaufen.
»Schön, dass Sie da sind!«, rief sie und
half, Koffer und Taschen hinunterzutragen.
Als Neele Marie den Kopf zur Tür ihres Vaters hineinsteckte,
erblickte sie ein chaotisches Durcheinander von Reiseutensilien. Um ihm
nicht beim Einräumen helfen zu müssen, lief sie
schnell in ihr Zimmer zurück. Alles was sie brauchte, fand
Platz in ihrer großen Reisetasche, die sie zu ihrem
zwölften Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Doch zum Sachen
auspacken blieb später noch Zeit. Zuerst musste sie Quirin
wiedersehen. Er war ihr bester Freund, selbst wenn sie sich nur ein
paar Wochen im Jahr sahen. In dieser kurzen Zeit waren sie
unzertrennlich - Quirin, der fröhliche Junge, der sie im Boot
seines Onkels zum Fischefangen mitnahm und Neele Marie, das blonde
langhaarige Mädchen aus der Stadt.
Neele Marie behielt ihre Schuhe in der Hand und lief barfuß
über die weißgekalkte Steintreppe, die am Haus
hinunterführte. Sie spürte den warmen Sand unter den
Fußsohlen, als sie den Weg zum Strand entlangrannte. Obwohl
es bereits Herbst war, waren die Tage meistens recht sonnig und warm.
Sie überlegte, ob sie den Weg einschlagen sollte, der zum Haus
von Quirins Onkel führte oder lieber die andere Richtung auf
dem schmalen Pfad, der sich steil in die Weinberge
hinaufschlängelte zu ihrem geheimen Weg, den sie oft zusammen
gegangen waren. Sie entschied sich für den letzteren, er
führte über felsiges Gelände direkt zu ihrem
Geheimversteck. Jetzt konnte Neele Marie wieder ihre Schuhe gebrauchen.
Sie fing an, über die Steine zu klettern, und hatte es
geschafft. Vor ihr lag die "Grüne Grotte". Es handelte sich
dabei um einen flachen Platz, der auf drei Seiten von steilen Felsen
und Mauerwerk geschützt wurde. Ein alter knorriger
Ölbaum ließ seine Äste über die
Felsen hinausragen. Die vierte Seite fiel in einem nahezu kreisrunden
tiefen Kessel zum Meer hin ab. Das Wasser dort schien in einem
außergewöhnlich starken Grün, als
würde es geheimnisvoll grünlich leuchten. Beruhigt
stellte Neele Marie fest, dass alles war wie früher. Sie
blickte auf die schmale Öffnung des Kessels, durch die sich,
von einem hohen Felsen geschützt, der aus dem Wasser
hervorragte, mit viel Geschick ein Boot hatte steuern lassen.
In der Nähe der kleinen Feuerstelle, auf der sie im
vergangenen Jahr mit Quirin einen gefangenen Barsch gebraten hatte,
legte sie sich ins Gras.
Sie hatte die Augen geschlossen und war fast eingenickt, da
hörte sie plötzlich aus der Nähe Stimmen.
»Da, ein Mädchen! Hoffentlich hat sie uns nicht
gesehen. Sonst...!«
»Sie schläft sicher fest. Also hat sie uns nicht
gesehen!«
Neele Marie hatte alles mitangehört und hielt ihre Augen
geschlossen. Die Stimmen gehörten zwei Männern. Sie
verhielt sich ruhig und nach einer kleinen Weile setzte sie sich mit
einem Ruck auf. Wer waren die beiden Männer? Von was hatten
die Unbekannten gesprochen, das sie nicht wissen sollte? Neele Marie
fröstelte bei dem Gedanken an die Drohung, die der eine
ausgesprochen hatte. Sie wollte sofort mit Quirin darüber
sprechen. Sie sprang auf und kletterte über die Felsen
zurück.
Die Sonne ging hinter den Hügeln unter, als Neele Marie auf
das Haus von Quirins Onkel zulief. Durch die geöffnete
Tür drangen lebhafte Rufe nach draußen. Quirin und
sein Onkel redeten zur gleichen Zeit. Als Neele Marie über die
Türschwelle trat, bemerkte Quirin sie und lief zu ihr.
»Wir haben schon sehr auf dich gewartet, Neele«,
begrüßte Quirin seine Freundin. »Aber es
ist nicht gut, wenn du jetzt hereinkommst, mein Onkel möchte
niemand sehen, er tobt vor Wut!«
Die Freunde beschlossen, am Strand entlang zu laufen. Nach ihrer
Wiedersehensfreude brachte Quirin das Gespräch wieder auf
seinen Onkel.
»Er hat einen Vertrag mit einem Händler in der Stadt
geschlossen. Der Mann kauft ihm jede Woche seinen gesamten Fang ab. Das
ist für ihn sehr günstig. Mein Onkel hält
die Fische immer bis zu dem Tag, an dem sie verkauft werden, im Wasser
gefangen, damit sie frisch bleiben. Und nun hat ihm ein Unbekannter
alle Fische gestohlen, und das bereits zum zweiten Mal! Kannst du dir
vorstellen, was das für ihn heißt?«
»Dein Onkel tut mir leid«, antwortete Neele Marie.
»Wo wurden denn seine Fische gestohlen?«
»Aus unserem Versteck natürlich, aus der
Grünen Grotte!«
II - Das Felsenhaus
Neele Maries Gedanken überstürzten sich. Aus ihrem
Versteck hatte jemand die Fische gestohlen?
»Dann sind mir vielleicht die Diebe heute schon mal
begegnet!«, sagte sie zu Quirin.
»Was? Sag das nochmal!«
»Ich sagte, dass mir vermutlich die Diebe heute bereits
begegnet sind.«
»Um welche Uhrzeit und wo war das?«
»Vor etwa einer Stunde an unserer altbekannten Feuerstelle.
Ich hatte mich soeben ins Gras gelegt, als zwei Unbekannte nahe an mich
herantraten. Als sie mich sahen, waren sie wohl genauso erschrocken wie
ich auch. Sie redeten über etwas, von dem ich nichts wissen
sollte. Der eine sprach mit einer so kalten, gefährlichen
Stimme, die ich im Leben nie vergessen würde.«
»Würdest du sie wiedererkennen?«
»Ich glaube nicht. Ich hatte meine Augen zu, damit sie
glaubten, ich schliefe. Als sie fort waren, sah ich nur die Umrisse von
zwei Männern, die sich im Sonnenlicht über die Felsen
bewegten.«
»Trugen sie vielleicht etwas bei sich, einen großen
Korb, mit dem sie ihre Beute transportierten?«
»Nein, einen riesigen Korb hätte ich sehen
müssen. Außerdem wäre es kaum
möglich gewesen, den Fang einer ganzen Woche über den
Berg zu schleppen.«
»Logisch, mein Onkel holt sie immer mit dem Boot.«
»Du bringst mich auf eine Idee. Ich hatte das Tuckern eines
Motorbootes gehört, das sich langsam entfernte.«
»Es könnten also drei Leute gewesen sein. Die Zwei,
die vor dir standen, stahlen die Fische und ein anderer schaffte sie
fort in einem kleinen Motorboot.«
»Konntet ihr so einfach die Fische in der Grotte gefangen
halten?«
»Ja, der Ort war einfach ideal. Wir brauchten nur ein
dünnes Nylonnetz in dem Eingangsspalt zu spannen. Als wir
mittags zur Grünen Grotte kamen, waren die Fische noch da,
aber von dem Käfig war nichts zu sehen. Das Netz war mit
Gewalt zerschnitten worden.«
»Vielleicht wollten sie euch irreführen.«
»Schon möglich. Mein Onkel hat einen Verdacht. Er
vermutet, es könnte der "Geier" gewesen sein.«
»Wer ist das?«
»El buitres, ein kleiner Mann mit einem verschlagenen
Gesicht wie dem eines Raubvogels. Er hat sich einen neuen
Außenbordmotor für sein altes Boot gekauft. Das Geld
könnte er für die Raten benötigen, glaubt
mein Onkel.«
»Wir bräuchten also nur zu dem Vogelgesicht zu gehen
und ihn zum Sprechen bringen. Und wenn ich die Stimme wiedererkenne,
haben wir den Beweis und könnten ihn Wachtmeister Heckmaier
ausliefern!«, rief Neele Marie.
Quirin sah Neele Marie bewundernd an.
Sie machten sich auf den Weg und liefen nebeneinander den festen
Uferstreifen strandaufwärts. Eine kühle Brise wehte
vom Meer herüber.
Es war eine dunkle Nacht. Nur aus der Ferne leuchteten vom Ufer einige
Lichter. Neele Marie hoffte, dass sie den Räuber bald finden
könnten ...
Da erhob sich vor ihnen plötzlich aus der Dunkelheit das Haus
des "Geier". Es glich einer Lehmhütte, die in den Felsen
hineingebaut worden war. Die Bretterläden an den Fenstern und
der Tür waren geschlossen, nichts rührte sich. Quirin
und Neele Marie warteten ein Paar Minuten. Sie vernahmen nur das leise
Rascheln von Büschen und Bäumchen, die in
großen Kübeln vor der Behausung standen.
Regungslos lehnten sie an der Tür und lauschten. Nichts
außer dem Rascheln der dürren Stauden. Als Quirin
mit der flachen Hand gegen die Tür drückte, fuhr ein
Windhauch hindurch und ließ sie knarrend aufspringen.
Die Freunde gingen neben dem Eingang sofort in Deckung. Kein Laut drang
aus der Hütte. Quirin schaltete eine kleine Lampe ein und
leuchtete durch den niedrigen Raum. Das Licht fiel auf ein Paar
zerwühlte Militärdecken. Auf einer Holzbank standen
die Reste einer Mahlzeit: Brot, Wein und Käse. Ein
Hängeschrank war gefüllt mit Bechern und
Gläsern. Auf dem Herd drängten sich Pfannen,
Töpfe und Tiegel.
»Er scheint nicht da zu sein«, sagte Neele Marie.
»Wenn er nicht hier ist, sitzt er oft im >Blauen
Hecht<. In dieser Kneipe treffen sich die Fischer und Matrosen.
Man wird es nicht gern sehen, wenn wir da hineingehen, aber wir
können hier nicht schafsgeduldig auf ihn warten«,
antwortete Quirin.
Beinahe wäre er über einen großen Korb
neben der Tür gefallen. Darin glänzten Fischschuppen.
»Damit hat er die Fische geholt. Los, wir gehen sofort zum
>Blauen Hecht<."
Die Glocken der Dorfkirche schlugen zehn, als Quirin und Neele Marie
auf dem kopfsteingepflasterten Platz an der Kneipe ankamen. Als sie
eintraten, schlug ihnen der Lärm und die Musik regelrecht ins
Gesicht. Der niedrige Raum war voller Matrosen. In der Mitte
saß eine Gruppe Musiker und unterhielt die anwesenden
Gäste mit Klavier, Akkordeon, Klarinette und einer Darabuka.
Den Geier fanden die Freunde tatsächlich. Er saß in
einer
Ecke allein am Tisch. Sein Kopf lag auf die Platte gesunken in einer
Pfütze von verschüttetem Wein. Quirin glaubte, er
schliefe und trat ihm blitzschnell gegen das Schienbein.
»Was gibt's denn?«, fuhr der Geier lallend hoch und
starrte
Quirin und Neele Marie in die harmlosen Gesichter. In diesem Augenblick
stellte sich ein mächtig dicker Mann in fleckiger Cordhose und
schmuddeliger Schiffermütze den Freunden in den Weg.
»He, was macht ihr denn hier?«, fragte er Quirin
und Neele Marie und wandte sich sogleich dem Mann zu, der sich fluchend
ununterbrochen das Schienbein rieb. »Der Tisch bleibt sauber,
sonst fliegst du hier raus, verstanden?« Der Wirt wischte mit
einem Lappen den vergossenen Wein auf. »Seit heute Mittag
sitzt er hier und trinkt!«
»Sagen Sie, wissen Sie das genau?«, fragte Quirin
den Wirt.
Überrascht sah er den Jungen an. »Ich muss es wohl
wissen, oder? Aber was geht euch das schon an? Ihr verschwindet jetzt
von hier, verstanden? Kinder haben hier nichts verloren! Ab mit euch!"
Er blickte Quirin und Neele Marie kopfschüttelnd nach, als sie
nach draußen verschwanden.
Niedergeschlagen liefen die beiden Freunde den Weg zurück zum
Strand.
»Nun, kommt der Geier für dich als Täter in
Frage?«, fragte Quirin das Mädchen.
»Ganz gewiss nicht. Er sprach viel zu schrill.«
»Und wenn der Wirt mir erzählt, dass er seit dem
Mittag in der Kneipe sitzt, konnte er auch nicht in der Grünen
Grotte gewesen sein. Aber wir geben deswegen so schnell nicht auf.
Weißt du was, mein Onkel hat vor ein Paar Tagen eine
prächtige Muräne gefangen. Sie ist sicher zwei Meter
lang und von purpurroter Farbe.«
»Du meinst, wenn wir den Prachtkerl in der Stadt oder auf dem
Markt finden, haben wir auch den Dieb?«
»Genau. Morgen hole ich dich frühzeitig ab, und wir
nehmen den ersten Bus, einverstanden?«
»Ist gebongt!«
»Gut, also träum' schön und
Tschüss bis morgen!«, rief Quirin. Danach war er in
der Dunkelheit verschwunden.
Am nächsten Tag fuhren Quirin und Neele Marie früh am
Morgen mit dem Bus zum Markt in die Stadt. Neele Marie hatte
vorsorglich ein Paar Birnen und Äpfel mitgenommen, die Frau
Fahrenkrog-Petersen ihr auf einem Teller ins Zimmer gestellt hatte.
Einige Male hielt der Bus und Frauen stiegen ein, die Körbe
mit Gemüse trugen, die sie auf dem Markt verkaufen wollten.
Und plötzlich geschah es! Bremsen kreischten,
Fahrgäste wurden aus den Sitzen geschleudert, Frauen schrien
entsetzt auf und Obst kollerte über den Fußboden.
Der Bus stand auf einmal still.
»Donnerwetter nochmal, habt
ihr Busfahrer nichts Besseres zu tun, als eure Mitmenschen
über den Haufen zu
fahren?«, bellte eine barsche Stimme durch das
geöffnete Fenster neben dem Fahrersitz herein.
»Das ist Jeronimo Blue!«, flüsterte eine
Frau im Bus zu einer anderen. »Kommt vermutlich wieder zur
Morgenstunde nach Hause!«
Dem Bus war ein offener roter Sportwagen gefährlich nahe
gekommen, dessen Fahrer lässig am Steuer saß und
seinem Ärger Luft machen wollte. »Pass
nächstesmal gefälligst besser auf, wohin du
fährst!«
Auch Neele Marie hatte die Stimme gehört: »...
Hoffentlich hat sie uns nicht gesehen. Sonst ...!« Es war
seine
Stimme!
III - Den Schurken auf der Spur
Der Sportwagenfahrer sah gelangweilt zu, wie der Bus Stück um
Stück zurücksetzte und die Durchfahrt freigab
für das rote Auto, welches mit aufheulendem Motor davonjagte.
Neele Marie wurde kalkweiß im Gesicht. »Das war
er!«, stotterte sie zu Quirin. »Das war der Mann
aus der Grünen Grotte!«
Quirin sah seine Freundin immerzu verständnislos an. An der
Endstation stiegen sie aus und liefen am Hafen an den Schiffen entlang,
deren Masten knarrten.
»Hast du mich immer noch nicht verstanden?«, fragte
Neele Marie Quirin. »Ich habe seine Stimme wiedererkannt. Wir
müssen sofort zu Hauptkommissar Heckmaier gehen und eine
Anzeige machen!«
Quirins Gesicht verzog sich zu einem kläglichen Grinsen.
»Jetzt hör aber auf, Neele, wir können doch
nicht Jeronimo Blue anzeigen! Seinem alten Herrn gehören auf
dem Festland Weinberge, Hotels, Fabriken und vieles mehr. Die Familie
ist die reichste auf der Insel. Hätte es Jeronimo
nötig gehabt, da einem armen Fischer ein paar olle Fische zu
stehlen?«
Neele Marie dachte nach, während Quirin sie in eine schmale
Gasse zog, hinter der beide sogleich auf dem Fischmarkt standen. In
langen Reihen lag alles ausgebreitet, was das Meer hergab. Dicke
Barsche, lange Aale, schlanke Hechte, Muscheln und Krebse. Neele Marie
kannte sogar die Namen einiger Fische. Manfred, der 18-jährige
Sohn von Frau Fahrenkrog-Petersen hatte sie einige Male zum Fischen
mitgenommen und ihr gezeigt, wie die Fische mit der Harpune gefangen
wurden.
Wie sollten sie nur diesen einen Fisch auf dem Markt finden, wo es hier
Hunderte, wenn nicht Tausende von Fischen gab?
Immer mehr Menschen drängten zu den Verkaufsständen.
Neele Marie und Quirin hatten Mühe, sich die Reihen
entlangzuschieben.
»Ich muss zu dem Händler gehen und ihm sagen, dass
ihm mein Onkel diesmal wieder nichts bringt«, sagte Quirin.
Neele Marie wartete in einer Gasse bei einem Glas Cappuccino auf
Quirin, der um die nächste Ecke verschwand.
Quirin traf auf den Fischhändler, der gerade aus der offenen
Tür seines Geschäfts heraustrat.
»Ich soll Ihnen ausrichten, dass mein Onkel nicht
kommt«, sagte Quirin. »Er kann nichts
dafür, aber ihm wurden bereits zum zweiten Mal die gesamten
Einnahmen gestohlen!«
Dem kleinen Mann mit der langen, weißen Schürze um
den Bauch fielen vor Schreck beinahe die Salbeiblätter aus der
Hand. Als er nach einer kleinen Weile wieder zu sprechen begann, sagte
er mit sanfter Stimme: »Richte ihm aus, er solle sich keine
großen Sorgen machen. Falls er Geld benötigt,
bekommt er von mir einen Vorschuss. Glücklicherweise hat mir
ein langjähriger Lieferant gestern Abend ...«
Quirin hörte dem Fischhändler nicht mehr zu, sondern
starrte auf das große Schaufenster. Und da lag sie, die er
die
ganze Zeit gesucht hatte! Eine riesengroße Muräne
mit leuchtenden purpurroten Flecken füllte die gesamte Breite
der Auslagen.
»Oh Mann«, schluckte Quirin. »Wissen Sie,
was das ist?«
»Ein prächtiger Bursche!«, lachte der
Fischhändler. »Einen so schönen habe ich
selten gesehen. Hätte diese Muräne dein Onkel
gefangen, hätte ich ihn dafür reichlich
entlohnt!«
»Aber er hat sie ja mit eigenen Händen gefangen! Es
war diese gefleckte, riesige Muräne, die ich unter den Fischen
sah, die uns gestohlen wurden!«
»Unsinn, mein Freund«, sagte der Mann ernst.
»Manfred kam mit ihr gestern Abend in meinen Laden! Seine
Mutter bewirtschaftet das Hotel Peterhof.«
»Meinen Sie etwa Manfred von
der Pension Peterhof?«
»Genau den meine ich. Na, so viele Petersens gibt es
hier nun auch nicht.«
In Quirins Kopf kreiste nur noch eine Frage: War Manfred ein Dieb?
IV - Zwei Freunde legen eine Falle
Nachdem Neele Marie und Quirin um die Mittagszeit wieder zu Hause waren
und im Ferienhaus gegessen hatten,
kehrten sie nach einer kleinen Pause zurück zur
Grünen Grotte. Sie spannten eine Schnur knapp über
dem Wasserspiegel an zwei Haken rechts und links am Eingang der Grotte
und ließen das Netz, von Bleigewichten gezogen, bis auf den
Grund sinken.
Quirins Onkel war die Gefahr zwar zu groß, aber er hatte sich
immerhin bereit erklärt, das kaputte Netz wieder in Ordnung zu
bringen.
Ob der Dieb den Käfig durch Zufall entdeckt hatte oder Quirins
Onkel beobachtet hatte, wusste Quirin nicht. Jedenfalls wollte er einem
Dieb auf keinen Fall helfen.
Während Neele Marie und Quirin den Strand nach Muscheln
absuchten, kam plötzlich ein Schwimmer mit einer Tauchermaske
auf sie zu. Es war Manfred. Er nahm seine Maske ab und hielt in der
einen Hand eine Harpune.
»Na, ihr beiden?«, fragte er. »Heute so
schweigsam?«
»Hast du schon etwas gefangen?«, fragte Neele Marie
zurück.
»Leider nein. Aber gestern habe ich den Fang meines Lebens
gemacht. Ich erlegte eine gut zwei Meter lange Muräne, seltsam
purpurrötlich gefleckt. Ich habe sie für gutes Geld
einem Händler in der Stadt verkauft.«
»Wo hast du sie denn gefunden?«, wollte Quirin
wissen.
»Drüben am Kap Arkona.«
Am späteren Nachmittag erholten sich Neele Marie und Quirin
beim Kricketspielen im Garten des Hotels.
»Manfred erzählte uns, er hätte die
Muräne am Kap Arkona gefangen«, sagte Neele Marie
und trieb ihre Kugel über den Rasen. »Das Kap Arkona
liegt nur einen Steinwurf von der Grünen Grotte
entfernt.«
»Still!«, flüsterte auf einmal Quirin.
»Manfred verschwindet mit seinem Außenbordmotor aus
dem Schuppen und trägt ihn zum Strand hinunter.«
»Ob wir mal nachsehen sollen, wohin er
fährt?«, überlegte Neele Marie.
Und gleich darauf liefen sie, hinter Büschen
geschützt, bis zum Ende der Bucht. Aus der Ferne
hörten sie, wie Manfred den Motor startete und sich mit dem
Boot, gemütlich tuckernd, vom Strand entfernte.
Neele Marie und Quirin hasteten zurück über die
Felsen und ließen sich schließlich hinter einer
Gruppe niedriger Büsche über der Grünen
Grotte nieder, von wo aus sie den Eingangsspalt drunten beobachten
konnten.
Lange Zeit geschah nichts. Nur das leise Rauschen des Meeres drang zu
ihnen hinauf. Doch plötzlich - Quirin wäre durch das
eintönige Rauschen der Brandung beinahe eingeschlafen -
vernahmen sie das gleichmäßige Tuckern eines Motors.
Die Freunde steckten ihre Köpfe über den Kesselrand.
Das Geräusch des Motors setzte aus, und nun sahen sie, wie ein
kleines weißes Boot von Ruderschlägen in den
Eingangsspalt gelenkt wurde. Quirin vergaß, wie sich seine
Finger in die steinige Erde krallten, und kurz darauf polterte eine
kleine Lawine von Steinen nach unten. Quirin hätte sich am
liebsten geohrfeigt.
Sogleich fuhr das Boot wieder zurück, der Motor wurde
angelassen, und irgendwann hatte das Rauschen der Brandung das
Geräusch verschluckt. Sicher fuhr Manfred auch so ein
weißes Boot, überlegte Neele Marie, doch kleinere
weißgestrichene Boote gab es hier zuhauf.
Wieviel Zeit vergangen war, als Neele Marie und Quirin an ihrem Ausguck
spielten, sich unterhielten und darauf warteten, dass etwas passieren
würde, merkten sie erst, als es schnell dunkel wurde. Der Mond
schien in den alten Olivenbaum und Sterne zeigten sich am Himmel.
War da nicht ein Schatten, der sich in der Dunkelheit auf sie
zubewegte? Scharrende Geräusche auf hartem Stein kamen schnell
näher, ein unförmiger, schwerer Schatten kam auf sie
zu. Sie bewegten sich schrittweise zurück, als sie
plötzlich vom gleißenden Lichtstrahl einer Stablampe
geblendet wurden.
»Was habt ihr hier zu suchen?«
Die unheimliche, schneidende Stimme des Mannes, der den roten
Sportwagen fuhr, sprach zu ihnen.
»Lassen Sie uns in Ruhe«, antwortete Quirin.
»Sie haben uns nichts zu befehlen!«
Die Stimme lachte trocken und fuhr böser fort als vorher:
»Ich rate euch, verschwindet sofort von hier! Sonst
...«
Wie damals beim ersten Zusammentreffen belies er es bei der
unausgesprochenen Drohung.
Quirin zog Neele Marie mit sich. Sie tasteten sich über den
trockenen Boden, danach mit den Händen über die
Felsen zurück zum Strand. Sie fühlten sich wie
gelähmt vor Schrecken und Quirin brachte Neele Marie rasch in
das Hotel. Danach lief er ebenfalls über den Sand nach Hause.
V - Ein eiskalter Plan
Gegen Abend des folgenden Tages wirkte das Dorf wegen eines
Fußballspiels wie ausgestorben. Jeronimo Blues' roter
Sportwagen rumpelte durch die Gassen und blieb holpernd auf dem
gepflasterten Platz in der Nähe vom >Blauen
Hecht< stehen. Der junge Fahrer, im Anzug und dunkler Brille
gekleidet, ging durch die geöffnete Tür der Kneipe
und ließ sich vom Wirt aus einer Flasche ein Glas
einschenken. Jeronimo trat auf den einzigen Gast, einen Mann, der etwa
gleich alt wie er sein mochte, zu, nahm einen Schluck und fragte:
»Hast du meine Nachricht erhalten?«
Sein Gegenüber nickte.
»Teile den anderen mit, dass wir heute Abend
weitermachen«, sagte Jeronimo. »Bei Anbruch der
Dämmerung geht's los. Nachts könnten wir ohne Licht
nicht arbeiten. Das wäre zu auffällig.
Übrigens, die beiden kindlichen Schnüffler aus der
Pension Peterhof stören mich. Besonders der große
Naseweis. Er könnte uns gefährlich werden.
Könntest du ein wenig nachhelfen, du verstehst, was ich
meine?«
»Ich verstehe kein Wort, Chef.«
»Nun, ich meine, es wäre nicht der erste Tourist,
der auf der Insel verunglückte ... Von den Felsen
gestürzt oder ertrunken. Hast du mich jetzt
verstanden?«
»Ich habe verstanden, aber ich mache dabei nicht
mit.«
»Willst du etwa feige sein?«, fragte Jeronimo.
»Ich bin es nicht!«
Er legte dem Wirt eine Münze auf die Theke, drehte sich um und
ging aus der Tür.
Von draußen hörten der Wirt und sein Gast das
dröhnende Aufheulen des Motors.
VI - Es geht hart auf hart
Um die gleiche Zeit hatten sich Neele Marie und Quirin wieder auf dem
Rasen vor dem Hotel Peterhof zusammengefunden, um ihr Kricket
fortzusetzen. Neele Marie jubelte, als sie die Partie gewann.
»Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass ich heute noch
zu meinem Onkel gehen muss«, erklärte Quirin.
»Er braucht mich, weil er einen neuen Käfig
herrichtet, den er im Meer versenken will. Damit möchte er in
Zukunft seine Fische fangen.«
Neele Marie sah ein, dass Quirin seinem Onkel helfen wollte. Sie liefen
zum Strand hinunter und blieben vor einem Boot mit der Aufschrift Maria
stehen.
»Mein Onkel hat es mir geschenkt, als er sich dieses Jahr ein
Größeres gekauft hat«, sagte Quirin.
»Möchtest du damit mal zu unserem Geheimversteck
hinüberrudern? Ich überlasse es dir gerne
für heute Abend.«
Neele Marie strahlte. Sie schoben die Maria über
den Sand ins
Wasser. Es war nur ein einfaches Fischerboot, an dem die Ruder mit
einer einfachen Seilschlinge befestigt waren. Neele Marie sprang hinein
und lenkte das Boot mit der nächsten Welle in Richtung des Kap
Arkona.
Als sie den Eingang der Grünen Grotte erreichte, wurde sie
Augenzeuge einer seltsamen Transportaktion. In einem schmalen
Motorboot, das an der Grotte lag, standen zwei Männer. Sie
schauten erwartungsvoll den Felsen nach oben, von wo aus ein dickes
Seil herunterhing, an dem eine lange Kiste baumelte. Zwei
Männer standen oben und ließen die Kiste langsam
nach unten. Als die beiden im Boot die Arme hochstreckten, um nach der
Kiste zu greifen, wandte einer den Kopf und erblickte Neele Marie. Sie
erkannte ihn sofort: Es war Jeronimo Blue.
»Verdammt!«, hörte sie ihn rufen. Der Mann
sprang in sein Boot und startete den Motor. Mit
verzweifelter Kraft riss Neele Marie die Ruderschäfte hoch,
und versuchte, das Boot aus dem Felsenspalt zu rudern. Sie
hörte, wie das Geräusch des fremden Bootes
näher kam. Dicht hinter ihrem Boot fühlte sie
plötzlich den
Aufprall einer Bugwelle, die mit einem Stoß ihren Kahn nach
vorne warf. Das fremde Boot schoss an ihr vorbei, wendete und kam
erneut wieder auf sie zu, so dass sie der Aufprall der Bugwelle wie ein
heftiger Schlag traf. Sie taumelte.
Kaum hatte sie sich wieder aufgerichtet, ging das Motorboot erneut zum
Angriff über. Wusste der Mann nicht, welches
gefährliche Spiel er da trieb?
Doch da kam schon der neue Stoß. Er hallte in ihren Ohren wie
ein Gewehrschuss. Das Boot wurde in dem aufgewühlten
Meer immer weiter vom Uferfelsen in die offene See abgetrieben. Immer
und immer wieder vernahm sie das Herandröhnen des Bootes, den
Schlag und die Welle, der sie hilflos ausgeliefert war.
Die Sonne war plötzlich nicht mehr zu sehen. Nur die
Schaumkronen der Wellen zeichneten weiße Muster auf der
dunklen Wasseroberfläche. Würde ihr Boot sogleich von
einem neuen Schlag getroffen werden? Neele Marie wartete. Doch der
Stoß blieb aus. Es rührte sich nichts mehr.
Anfänglich war Neele Marie erleichtert. Doch eine schreckliche
Erkenntnis stieg in ihr auf. Wenn der Mann verschwunden war, war er
sicher, dass sie nie wieder zurückkehren würde.
Sie kämpfte hartnäckig gegen die Strömung.
Da plötzlich - ein Ruck! Sie hörte etwas aufklatschen
auf dem Wasser. Die Maria
wirbelte herum. Neele Marie sah, dass die
Seilschlinge gerissen war. Sie hatte das rechte Ruder verloren.
Entschlossen nahm sie das andere Ruder in die Hand und begann zu
paddeln. Immer zwei Schläge rechts und zwei Schläge
links.
Glitt da nicht plötzlich aus der Ferne ein Lichtstrahl
über das Wasser auf sie zu? Sie vermutete, dass es ein
Scheinwerfer sein könnte. Sie richtete sich hoch auf und
schwenkte das Ruder wie wild hin und her. Neele Marie starrte auf den
kleinen Lichtpunkt. Sie sah ihn aufleuchten. Und dann erkannte sie,
dass er sich von ihr entfernte. Tränen liefen ihr
übers Gesicht. Die starke Strömung erfasste ihr Boot
und trieb es ab. Ihre Handflächen brannten. Erschöpft
ließ sie sich auf die Bretter niedersinken. Sie hatte keine
Hoffnung mehr.
VII - Das Versteck
Als Neele Marie wieder erwachte, fühlte sie, dass sie im Bett
ihres Hotelzimmers lag. Es musste am Morgen sein. Ihr Blick wanderte
über die Zimmerwände. Allmählich erinnerte
sie sich wieder: an die Männer, die die Kisten an dem Seil
herunterliesen. An Jeronimo Blue, der sie mit dem Boot aufs offene Meer
hinausjagte und danach im Stich lies. Wie sie das Ruder verlor. Wie sie
zu weinen begann, als der Scheinwerfer verschwand und sie vor
Erschöpfung zusammenknickte. Danach war ein weißes
Boot bei ihr. Eine Stimme rief nach ihr, die Stimme von Manfred. Er
hatte nach ihr gesucht und das treibende Boot gefunden. Im
Schlepptau zog er es mit seinem Boot bis zum Strand. Dort wartete
bereits Quirin, und sie brachten das Mädchen nach Hause. Manfreds
Mutter steckte es ins Bett, wo es sofort einschlief.
Wie konnte Neele Marie Quirin beweisen, was sie gesehen hatte? Sie
sprang aus dem Bett, und fünf Minuten später war sie
bei Quirin.
In der klaren, frischen Luft nahmen sie ihr Versteck in Augenschein.
Nachdem sie den Felsenkessel absuchten, aber nichts fanden, schwamm
Neele Marie zum Eingangsspalt der Grotte. Dort sah sie das Nylonnetz.
Wieder war es zerrissen, wie damals die ersten beiden Male.
»Ich glaube, ich weiß, wie es gewesen sein
könnte«, sagte Neele Marie.
»Wie lautet denn deine Theorie?«, fragte Quirin.
»Die Männer haben das Netz, ohne es zu wissen, mit
ihrem Boot beschädigt. Die Fische entkamen und schwammen ins
Meer. Die Muräne verirrte sich am Kap Arkona, wo Manfred sie
gefangen nahm. Also ist Manfred gar kein Dieb!«
»Du bist ein schlaues Mädchen!«, grinste
Quirin. Sie liefen nochmal an die Stelle, an der die Kisten in Empfang
genommen wurden.
»Ich glaube, ich hab' was entdeckt!«, rief Quirin.
»Das ist das ausgefranste Ende eines dicken Seils! Es
hängt von der Felswand herunter, genau da, wo die
Männer standen«, sagte Neele Marie.
»Könnte das nicht ein Beweis sein?«,
fragte Quirin. »Vielleicht haben sie es bei ihrer
überstürzten Flucht zurückgelassen. Los, ich
klettere zuerst. Du hältst mir das Seil.«
Quirin stemmte sich mit den Gummisohlen gegen die glatte Felswand.
Neele Marie sah nach oben. Bald war er über die Felskante
verschwunden. Gleich darauf schob sich wieder sein lächelndes
Gesicht hervor, und er rief nach ihr. Neele
Marie tat es ihm gleich und setzte Fuß vor Fuß.
Einmal geriet sie ins Straucheln und strampelte mit den Beinen durch
die Luft. Doch sie schaffte es und lies sich von Quirin den Rest
über den Rand der Steinmauer ziehen.
Neele Marie sah, dass das Seil um eine jahrhunderte alte dicke Eiche
geknotet war. Sie standen vor der zerfallenen Steinmauer eines sehr
großen Grundstücks. Rebstöcke,
Obstbäume, verwilderte Sträucher und Büsche
wuchsen zu einer undurchdringlichen Wildnis zusammen.
Sie bahnten sich einen Weg, der von der Mauer weg auf einem Pfad erst
durch Gestrüpp, danach zwischen hohen Sträuchern zu
einem alten Haus führte. Der Weg musste seit Jahren in
Vergessenheit geraten sein, so dicht waren die Zweige oft
zusammengewachsen. Unter den Blättern hingen reife
große gelbe Früchte.
Plötzlich sahen sie den alten Mann. Er trug einen grauen Bart
und kniff die Augen zusammen. »Euch werde ich Beine
machen!«, schrie er. »Auf fremden
Grundstücken Pfirsiche zu klauen!«
Sogleich fing ein Hund an zu bellen. »Fass nach
ihnen!«, schrie er dem Tier zu.
Neele Marie und Quirin rannten aus Leibeskräften. Keuchend kam
der Hund ihnen immer näher. Quirins Fuß blieb an
einer Wurzel hängen - er stürzte zu Boden! Das Tier
schoß über ihn hinweg. Neele Marie stand
erschöpft an einer von Himbeerbüschen
überwucherten Wand. Aber da bemerkte sie plötzlich,
wie der Hund freundlich mit dem Schwanz hin und her wedelte und ihr
aufgeregt das Gesicht leckte. »Lucky, du bist es!«,
rief sie überrascht und streichelte einige Male über
seinen Rücken.
Lucky war damals sehr klein gewesen, als Neele Marie ihn vor zwei
Jahren am Ufer fand. Amerikanische Matrosen hatten mit ihrem Boot am
Strand angelegt. Und als sie abends wieder fort waren, hatten sie ihn
in der Eile vermutlich vergessen. Neele Marie und Quirin hatten ihn
"Lucky" getauft. Aber da sie ihn nicht hatten behalten dürfen,
hatten sie Lucky im Dorf einem Aufseher überbracht. Nun
gehörte er dem alten Steffen, der kürzlich einen
Jungen verprügelt hatte, der auf dem Grundstück
Pfirsiche gestohlen hatte. Von diesem wollten sich Neele Marie und
Quirin auf keinen Fall erwischen lassen!
Plötzlich flatterte etwas aus den Büschen um ihre
Köpfe. »Ui! Eine Fledermaus!«, schrie
Neele Marie. »Hat die etwa Appetit auf uns?«
»Fledermäuse fressen nur Insekten«,
antwortete Quirin. »Auf Grund dieses unerwarteten
Zusammentreffens folgere ich, dass es ganz nah in der Umgebung einen
Unterschlupf oder eine Höhle geben muss, in dem diese Tiere
wohnen. Sehen wir uns doch mal um!«
Sie suchten hinter wild wuchernden Beerenranken die
weißgekalkte Mauer ab und fanden tatsächlich eine
halbrunde Öffnung, die der Eingang zu einer Höhle
oder Stollen sein musste. Das Gittertor aus massivem Holz wurde durch
eine
Kette und ein Vorhängeschloss gesichert und versperrte ihnen
den Zutritt. Neele Marie drückte ihre Nase an die
Gitterstäbe. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit
gewöhnt hatten, erblickte sie an der
gegenüberliegenden Wand eine Brechstange und einen Hammer.
Daneben standen viele Kisten, die von der Form und Länge denen
sehr ähnlich sahen, die die Männer in den Booten
fortgeschafft hatten.
»Hier ist ein Balken locker«, rief Quirin, der die
Gitterstäbe untersuchte. Sie stemmten sich beide dagegen.
Plötzlich gab es einen Ruck, und beide stießen mit
den Köpfen gegen das Gitter. Doch sie hatten es geschafft.
Neele Marie war gerade so breit, dass sie sich durch den schmalen Spalt
zwängen konnte.
Endlich stand sie vor den aufgestapelten Kisten an der Wand. Irgendwo
oben an der Decke befanden sich tatsächlich einige
Fledermäuse. Aber sie vergaß ihre Furcht, als sie
sich sogleich mit der Brechstange an der fest verschlossenen oberen
Kiste zu schaffen machte.
Vom Lärm angelockt schnüffelte der Hund am Eingang
des Gitters. Neele Marie nahm den Hammer und schlug ein Paar Mal gegen
das stumpfe Ende des Eisens. Sofort sprang der Deckel auf. Sie warf die
Holzwolle zur Seite und spürte zwischen den Fingern etwas
Kaltes. Im Dämmerlicht der Höhle erkannte sie den
Lauf einer schwarzlackierten, metallenen Waffe. »Hier liegen
Maschinenpistolen, Quirin!«, flüsterte sie.
»Die ganze Kiste ist damit voll!«
»Lucky«, hörten sie die Stimme des alten
Steffen aus der Ferne. »Lucky, wo bist du? Hierher
Lucky!«
Quirin streichelte dem Hund über die Schnauze. Dieser trottete
plötzlich über die Lichtung davon. Sie
hörten noch, wie der Alte sorgsam auf das Tier einredete.
Danach entfernten sich ihre Schritte.
Neele Marie schob sich durch das Tor zurück ins Freie.
»Wir haben gefunden, was wir lange suchten«, sagte
sie zu Quirin. »Jetzt kann uns nur noch der Kommissar
weiterhelfen.«
VIII - Der Kommissar greift ein
Eine Stunde später standen Neele Marie und Quirin in der
Polizeistation des Dorfes bei Hauptkommissar Heckmaier. Sie
erzählten ihm die ganze Geschichte. Zuerst von den Fischen und
zuletzt von den Waffen. Als sie fertig waren, nahm er den
Telefonhörer vom Schreibtisch ab, wählte eine Nummer
und sprach mit seinem Kollegen. Danach sah er die beiden durch seine
große Brille durchdringend an.
»Ich gehe davon aus, das alles wahr ist, was ihr mir
erzählt habt«, sagte er zu ihnen. »Euch
ist doch klar, was passiert,
wenn das alles nicht stimmt, nicht wahr?«
»Wir haben Ihnen alles so erzählt, wie wir es mit
eigenen Augen gesehen haben«, antwortete Quirin.
»Also gut. Dann wollen meine Leute und ich mal der Villa
Markel einen Besuch abstatten.«
Und damit war für Neele Marie und Quirin das Abenteuer
eigentlich zuende. Sie hätten gerne dabei zugeschaut, wie
Jeronimo abgeführt wurde. Doch das erlaubte Kommissar
Heckmaier nicht. Nachdem nun alles vorbei war, erfuhr Neele Maries
Vater von ihrem Abenteuer mit Quirin. »Nicht auszudenken, was
alles Schlimmes dabei hätte passieren
können«, flüsterte er.
Bald würden die Ferien vorbei sein, und nächste Woche
würde Neele Marie bereits wieder in der Schule sitzen.
Schon nahte der Tag der Abreise. Frau Fahrenkrog-Petersen
verabschiedete sie mit den süßesten Leckereien, die
ihr
Haus zu bieten hatte. Sie saßen gerade bei
Schokoladenpudding mit Vanillesoße und köstlichen
Cremetörtchen, als sich die Tür öffnete und
Manfred herein trat. Triumphierend hielt er den Gästen die
Titelseite einer Tageszeitung mit heutigem Datum entgegen. Es war eine
Zeitung aus Stockholm, die ihm gerade der Wirt vom >Blauen
Hecht< überbracht hatte.
Die Überschrift lautete:
Två tonåringar catch smugglare
Übersetzt heißt das: "Zwei Jugendliche fangen
Waffenschmuggler"
Manfred begann zu lesen, und Neele Marie und Quirin hörten atemlos zu:
"Durch die Hilfe zweier Jugendlicher gelang es der
Polizeibehörde auf der Insel R., eine mit Haftbefehl gesuchte
Schmugglerbande dingfest zu machen. Nachdem zum wiederholten Male von
einem ansässigen Berufsfischer sämtliche
Fischerträge innerhalb von zwei Wochen aus einer Felsengrotte
verschwanden, erhärtete sich der Verdacht, dass Diebe die
Fische gestohlen hatten. Während der Junge und das
Mädchen versuchten, den Fischdiebstahl aufzuklären,
wurden sie auf eine Bande von Schmugglern aufmerksam, die die
Felsengrotte als Umschlagplatz für ihr Treiben benutzte. Die
Jugendlichen ertappten die Männer auf frischer Tat beim
Beladen eines Bootes und entdeckten in einem Stollen eine Anzahl Kisten
mit Waffen auf dem Grundstück der Villa Markel, welche zu
Lebzeiten von dem Millionär J. D. Markel bewohnt wurde. Der
Sohn des Grundstückbesitzers, Jeronimo B., gilt als
Drahtzieher der Schmugglerbande. Nach seiner Verhaftung wurde er der
Behörde in Venedig überführt und hat die
Taten gestanden. Seiner Aussage zufolge wurden die Waffen an
Untergrundgruppen in Venezuela verschoben. Durch die Hilfe der
Jugendlichen ist der Polizei ein bedeutender Fang geglückt."
Manfred gab Neele Marie die Zeitung mit als Erinnerung an ihr
Abenteuer. Immer wieder las sie den Artikel. Es bestand kein Zweifel
daran, dass sie und Quirin heute in Stockholm das
Gesprächsthema Nr. 1 waren!
Quirin wischte sich eine Träne aus dem Auge, als er zum
Abschied mit seinem Onkel sowie Manfred und dessen Mutter neben dem
Auto stand, in das Neele Marie und ihr Vater einstiegen.
»Ich werde dich sehr vermissen«, sagte Quirin und
drückte Neele Marie einen Kuss auf die Backe. »Komm
gut nach Hause!«
Der Vater startete den Motor. Alle winkten ihnen nach. Neele Marie
schaltete das Radio ein. Marit Larsen sang eine wunderschöne
neue Ballade, und Neele Marie und ihr Vater fuhren einem
wundervollen Sonnenaufgang entgegen.
Immer wenn ich nachts die Sterne sehe, muss ich an Neele Marie denken.
Ich hoffe, dass sie eines Tages wieder zu uns zurückkehrt.